Experteninterview: Eugen Unger über inspirierende Führung
In einer Zeit, die von neuen Arbeitsformen, digitaler Transformation und hybriden Arbeitsmodellen geprägt ist, stehen Führungskräfte vor kontinuierlichen Veränderungen.
Führungsverantwortung zu tragen, bedeutet heute weit mehr, als dafür einzustehen, dass Ziele erreicht oder Prozesse gemanagt werden. Die Schaffung einer Unternehmenskultur, die die Freude am Mitgestalten fördert und Menschen erreicht, ist von entscheidender Bedeutung.
Für ein Führungsverständnis, das inspiriert und neue Maßstäbe setzt, tritt Eugen Unger ein. Sein Arbeitsfokus liegt in der kulturellen Transformation von Unternehmen sowie dem Training und Coaching von Führungskräften. Für ihn bedeutet inspirierende Führung, bereit zu sein, so weit wie möglich über sich selbst hinauszudenken und somit zur Weiterentwicklung von Mitarbeitenden beizutragen – kurz gesagt: Fremdoptimierung zu ermöglichen.
Bei OSCAR bieten wir unseren Führungskräften regelmäßig Workshops mit Eugen Unger an. Dieses Mal hatten wir die Gelegenheit, ihm im Anschluss einige spannende Fragen zu stellen.
In diesem Interview sprechen wir insbesondere darüber, wie Führungskräfte eine Unternehmenskultur schaffen können, die Freude am Mitgestalten sowie die persönliche Entwicklung von Mitarbeitenden fördert.
Eugen, Du hast in Deinem Vortrag von der Lern- und Komfortzone gesprochen. Wie können Führungskräfte sicherstellen, dass ihre Mitarbeitenden sowohl herausgefordert als auch unterstützt werden, um ein Gleichgewicht zwischen Komfort- und Lernzone zu erreichen und dieses auch aufrechterhalten?
EU: Aus meiner Sicht ist das Stichwort Gleichgewicht der Schlüssel. Wir fühlen uns alle von Zeit zu Zeit mit unseren Routinen recht wohl und auch Unternehmen profitieren davon. Gewohnheiten helfen die Stabilität von Unternehmen sicherzustellen. Wenn jeder Handgriff perfekt sitzt, ist Qualität gewährleistet. Es geht vielmehr um einen produktiven Mix aus Komfort- und Lernzone. Wir brauchen immer beides: Stabilität und Agilität.
Während des Feuerwehreinsatzes kommen beispielsweise die trainierten Abläufe zum Einsatz (Stabilität). Nach der Brandbekämpfung oder in der Vorbereitung auf den nächsten Einsatz sollte reflektiert werden: Was lief gut, was können wir besser oder anders machen (Agilität)? Allerdings braucht es dafür Zeit und Raum. Führung, die Lernen initiieren möchte, sollte daher gezielt entsprechende Formate etablieren – ob über Retros, Hackathons o.ä. hängt vom Einzelfall ab.
Schaffen wir den Sprung in die Lernzone, ist leider nicht immer garantiert, dass sich sofort der Erfolg einstellt. Der Umgang mit Fehlschlägen entscheidet dann darüber, ob wir in Zukunft mutig Neues ausprobieren oder lieber im gewohnten Fahrwasser bleiben. Für Führungskräfte mag hier die Unterscheidung zwischen Irrtum und Fehler nützlich sein. Ein Irrtum ist ein Handeln ohne Erfahrung. Man probiert etwas aus und stellt fest, dass z.B. die Hypothesen falsch waren. Ein Fehler ist ein Handeln gegen Erfahrung: Es existiert ein bewährter Prozess, aber ich halte mich nicht daran. Je nachdem, ob es sich um einen Irrtum (Agilität) oder Fehler (Stabilität) handelt, wird die Reaktion der Führung hoffentlich unterschiedlich ausfallen.
Du hast erklärt, warum Du glaubst, dass man Andere nicht motivieren kann und dass Motivation bei uns selbst entstehen muss. Wie schafft man also eine Unternehmenskultur, in der Freude am Mitgestalten sowie die persönliche Entwicklung von Mitarbeitenden gefördert wird?
EU: Beim Thema Motivation kommt sehr schnell das Menschenbild der Führung zum Vorschein. Wie schaut die Führung auf mich? Wir alle haben ein feines Gespür dafür, ob andere uns als Partner auf Augenhöhe behandeln oder wir auf eine beliebig zu manipulierende Reiz-Reaktions-Maschine reduziert werden. Bei Letzterem merken wir schnell die Absicht und sind verstimmt. Daher wäre es bereits hilfreich, wenn es gelänge, das Level unnötiger Demotivation in Unternehmen zu reduzieren.
Ein wesentlicher Demotivationsfaktor ist fehlende Passung. Es gibt keine guten oder schlechten Mitarbeiter – nur passende oder weniger passende. Die Frage, die sich jeder Mitarbeiter aber auch jede Führungskraft stellen sollte, lautet: Bin ich auf dem richtigen Spielfeld unterwegs? Kann ich in meiner aktuellen Funktion meine Stärken und Potenziale zur Geltung bringen bzw. entwickeln?
Natürlich gibt es in jeder Rolle Aufgaben, die man sich im Vorhinein nicht freiwillig ausgesucht hätte. Einverstanden. Doch wenn ich im Großen und Ganzen nicht dem zustimmen kann, was ich den Großteil meiner Wachzeit tue, wie soll Freude an der Gestaltung oder Motivation entstehen? Es ist für beide Seiten ratsam, sich zu fragen, ob Funktion und Person möglichst optimal übereinstimmen. Und falls der richtige Fit noch nicht gefunden ist, kann Job Crafting helfen. Im Zweifel die Funktion, innerhalb bestimmter Grenzen, an die Person anpassen und nicht umgekehrt.
Neben der Motivation: Wie steht es um andere Aspekte, die inspirierende Führung fördert? Welche Rolle spielt bspw. Kreativität in der modernen Unternehmenskultur?
EU: Der Begriff Kreativität ist ein sehr lautes Wort. Meiner Meinung nach kommt es sehr darauf an zu klären, was wir im Unternehmenskontext damit meinen? Ich biete an: Kreativität ist das produktive Denken gegen Routine. Das Infragestellen des Gewohnten ist allerdings nicht so leicht, wie wir spontan vermuten. Das Wesen von Unternehmen ist konservativ. Immer wieder mit einem frischen Blick auf die tägliche Arbeit zu schauen, fällt schwer, wenn man den Job seit 20 Jahren erfolgreich macht. Wir laufen alle in die Erfolgsfalle und dann heißt es nur noch: mehr desselben.
Ein hilfreiches Gegengift ist eine Haltung der Neugierde. Früher ging es als Führungskraft darum, Antworten auf viele Fragen parat zu haben. In Hinblick auf Inspiration geht es eher darum, kluge Fragen zu stellen. Fragen, die anregen und Lust darauf machen, Neuland zu betreten, z.B. wer verwendet unser Produkt auf eine Weise, die wir gar nicht beabsichtigt haben? Was ergeben sich daraus für Möglichkeiten? Lass uns mal etwas ausprobieren.
Das ist ein weiterer wichtiger Punkt. Nicht jede neue Idee funktioniert gleich. Man probiert, bessert nach und irrt sich voran. Viele Innovationen mussten sich am Anfang gegen Widerstand behaupten, da sie Bisheriges radikal infrage gestellt haben. Wie geht Führung mit diesen Grenzüberschreitungen um? Erzeugt sie ein Möglichkeits-Klima? Mutiges Ausprobieren in einer Kultur, in der Schwarzer-Peter-Spiele oder das Not-invented-here-Syndrom lustvoll praktiziert werden, ist äußerst unwahrscheinlich.
Letztlich beginnt Kreativität bei mir als Führungskraft selbst. Bin ich noch lernend unterwegs? Breche ich mit überholten Routinen meines Lebens? Gibt es in meinem Leben überhaupt noch Premieren?
Wie hast Du Deine Leidenschaft für das Führungskräfte Coaching entdeckt? Gab es einen konkreten Auslöser in Deiner Geschichte, der Dich dazu motiviert hat?
EU: Nicht wenige neigen dazu, ihr Leben ex post mit einem roten Faden zu versehen. Alles scheint sehr klar auf ein Ziel, eine Mission zuzulaufen. Mir fällt das schwer. Ich habe, so ist zumindest meine Herleitung, nicht meine Berufung gefunden, sondern die Berufung hat mich gefunden.
Ich hatte das Privileg, in bestimmten Phasen meines Lebens auf Menschen zu treffen, die an mich und mein Potenzial geglaubt haben und mir eine Tür geöffnet haben. Und wenn man mutig genug ist, einzutreten, dann öffnen sich wieder neue Welten. Ein großer Türöffner in meiner Entwicklung war sicher Rupert Lay SJ. Als ich ihm 1992 das erste Mal begegnet bin, war ich vor allem von seiner breiten Bildung beeindruckt. Er hat Theologie, Philosophie, später noch theoretische Physik, Psychologie und Betriebswirtschaft studiert. Sich mit ihm über grundsätzliche Dinge des Lebens auszutauschen, war ein Vergnügen. Sicher kein leichtes, aber ein sehr inspirierendes Vergnügen.
Rupert Lay hat über 40 Bücher geschrieben, darunter so fundamentale Werke wie „Dialektik für Manager“ oder „Führen durch das Wort“. Auch in seinen Büchern gab es keine seichten Ratschläge oder einfache Rezepte. Er selbst hat das einmal so formuliert: „Diejenigen, die mich erobern, sollten hinterher auch ein Arbeitsergebnis haben“.
Ihm habe ich zu verdanken, dass ich, mit dem auf Fromm zurückgehenden Biophiliepostulat, ein humanistisches Fundament für meine Arbeit geschenkt bekommen habe, von dem ich heute noch profitiere. Dass er mein Leben geprägt hat, war Zufall und eines der größten Geschenke.
Eugen, wie siehst Du die zukünftige Entwicklung der Arbeitswelt und die Rolle von Führungskräften in den nächsten zehn Jahren? Hast Du das Gefühl, dass sich das Führungsverständnis verändern wird?
EU: Wenn man sich die Entwicklung der letzten Jahre anschaut, wird man demütig. Wer von uns hätte vor 5 Jahren geahnt, wie unfassbar schnell sich unsere Arbeitswelten durch Corona oder Generative AI verändern? Heute sitzen Führungskräfte in Workshops und lernen Prompt Engineering, damit sie mit den entsprechenden Large Language Models geeignet interagieren können. Die Frage für Führungskräfte lautet wohl passenderweise: Wie bereite ich mich und das Team auf eine Zukunft vor, die ich heute noch gar nicht erahne?
Das Problem: Zukunft hat in Unternehmen wenig Lobby. Das Dringende (heute) bestimmt das Wichtige (morgen). Daher sind Führungskräfte gut beraten, wenn sie den Blick weiten, der Zukunft bewusst, und sei es nur für begrenzte Zeit, Priorität einräumen. Von Vorteil ist es, wenn es gelingt, zureichend Menschen im Unternehmen zu versammeln, die für ihre Umgebung eine Zumutung darstellen, weil sie die Dinge anders sehen, intensiver reflektieren, mutiger Prozesse und Strukturen infrage stellen und erfolgreich andere anstiften, Experimente zu wagen. Wir brauchen bereits beim Recruiting eine Abkehr von der Haltung: Schmidt stellt Schmidtchen ein.
Sind solche Menschen leicht zu führen? Nein. Dafür braucht es ein Führungsverständnis, das mit dieser zuweilen radikalen Andersartigkeit umgehen kann und für diese freien Radikale erfolgreich Brücken baut. Denn ohne diese Integrationsleistung bleiben all die guten Ideen, die das Unternehmen resilienter machen können, theoretische Spielereien.
Aber was machen Unternehmen, die sich schwertun, solche Menschen überhaupt zu gewinnen? Vielleicht reicht es in dem einen oder anderen Fall bereits aus, solche Unruhestifter wenigstens für eine begrenzte Zeit an Bord zu holen. Menschen mit einer unvoreingenommenen Sichtweise, die aber neue Perspektiven eröffnen. Interdisziplinär, jung und mit viel Energie für das Neue. Eben OSCAR.
Autoren: Eugen Unger